Gründonnerstag 2020

Zum 75. Todestag von Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945

von Pfarrer Andreas Menzel

Evangelischer Heiliger wird er genannt, und nur wenige Menschen des Glaubens aus dem vergangenen Jahrhundert sind namentlich so bekannt wie er – bekannt und berühmt weit über den Bereich der Evangelischen Kirche und des deutschsprachigen Raums hinaus.

Sein Name steht für

  • beispiellose Zivilcourage und mutigen politischen Widerstand, um „dem Rad in die Speichen zu fallen“
  • wissenschaftliche Theologie, die die Mauern der Universität hinter sich lässt und sich den Herausforderungen des Lebens stellt 
  • ein vorbildhaftes Leben in der Nachfolge Jesu Christi.

Und noch mehr Seiten mag es an ihm geben.

An der prachtvollen gotischen Fassade von Westminster Abbey in London gibt es eine Bonhoeffer-Statue – ein Säulenheiliger ist er sozusagen geworden. Doch gerade das wollte er Zeit seines Lebens nicht sein. Und wir würden ihm auch nicht gerecht, würden wir ihn als Heiligen verehren, der über den weltlichen Dingen schwebt. Sein Leben hatte Bodenhaftung. Mit wachem Geist und empathischen Herzen wirkte er mitten in der Welt seiner Zeit.

Zu seinem 75. Todestag am Gründonnerstag, dem 9. April 2020, der Versuch einer Annäherung an Dietrich Bonhoeffer – mit Schlaglichtern auf sein Leben, ausgewählte Ereignisse - verknüpft mit Versen, die sein bekanntester Text geworden sind: Seit Jahrzehnten gesungen als Lied, gesprochen als Gedicht und Gebet, vor Augen als Erinnerungs- und Trosttext in Büchern oder an Zimmerwänden: Von guten Mächten wunderbar geborgen ...

1

Von guten Mächten treu und still umgeben ...

Am 4. Februar 1906 wurde Dietrich Bonhoeffer in Breslau geboren.
Der familiäre Kosmos prägt sein Leben als Kind und Heranwachsender. Er wächst auf in der behüteteten, privilegierten Welt der gehobenen Gesellschaft einer Wissenschaftler-Familie. Der Vater Karl ist ein anerkannter Psychiater und wird als Professor an die Charité in Berlin berufen. Die Mutter Paula geb. von Haase stammt aus einer Theologenfamilie. Als Lehrerin entwickelt sie mit Hilfe der fortschrittlichen Pädagogik ihrer Zeit ihre Ansichten für die Bildung und Erziehung der eigenen Kinder. Dietrich und seine Zwillingsschwester Sabine haben fünf ältere Geschwister, drei Jahre später kommt noch die jüngste Schwester zur Welt. Eine Familie mit acht Kindern insgesamt, die innerhalb von 10 Jahren auf die Welt kommen.

Die intensive Nähe zur Familie hat Dietrich Bonhoeffer Zeit seines Lebens begleitet – bis hin zu den gemeinsamen Zielen im politischen Widerstand, die er zusammen mit mehreren Familienangehörigen verfolgt hatte. Ein Bruder und zwei Schwager wurden wie Dietrich Bonhoeffer in den letzten Kriegstagen aufgrund ihres politischen Widerstands hingerichtet.

Auch in den Jahren, als er im Gefängnis war, wurde die Verbundenheit mit der Familie so wie es unter den belastenden Umständen möglich war, praktiziert: mit hin und her geschmuggelten Briefen - auf Wegen, auf denen auch das bekannte Gedicht den Weg zu seinen Eltern und zu seiner Verlobten Maria von Wedemeyer nahm. 

 

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mich euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

2

Noch will das alte unsre Herzen quälen ...

Was alles in diesen knappen Worten mitschwingt, wir können es kaum erahnen. Zusammengefasst darin Erfahrungen aus rund anderthalb Jahrzehnten seines Wirkens. Dietrich Bonhoeffer hat sich auseinandergesetzt mit den Ereignissen im Nazi-Deutschland der 30er Jahre – hat gerungen um den richtigen Weg, den richtigen Umgang ... in der Hoffnung, daran mitzuwirken, dass eine andere Welt Einzug halten kann. "Böse Tage", die er von Beginn an als solche wahrgenommen hat. “Böser Tage schwere Last“ hat er geschultert und getragen, anstatt sie leichtfertig einfach abzuschütteln – dabei hätte er es auch anders haben können:

Er war ein Überflieger in vielfacher Hinsicht: gerade 17jährig macht Dietrich am Grunewald-Gymnasium in Berlin sein Abitur, vier Jahre später ist er bereits Doktor der Theologie und mit 24 Jahren hat er sich für den Weg als Professor an eine Hchschule habilitiert. Der familäre Hintergrund bot ihm die Möglichkeiten, die Welt kennenzulernen und das Leben zu genießen: Reisen nach Italien und Libyen, Vikariat in Barcelona, ein Aufenthalt in Nordamerika, mit 27 Pfarrer in der Londoner deutschen Gemeinde. Dietrich Bonhoeffer war in der Welt zu Hause - und die globalen Erfahrungen prägten auch seine innere Haltung.

Doch er war aufgeschreckt, angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Nazi-Deutschland und in der Evangelischen Kirche in seinem Land.
Ihn bewegten Fragen wie diese: Was soll werden? Wie weit soll ich, muss ich gehen? Wo ist mein Platz?

Er sah seinen Platz in der Bekennenden Kirche, bildete im illegalen Predigerseminar Finkenwalde Vikare aus – und dabei war es ihm ein Herzensanliegen, das zu vermitteln, was Grund und Kraftquelle seines Glaubens war. „Gemeinsames Leben“, so war sein Konzept für diese Ausbildung – und es sind der klösterlichen Gemeinschaft angelehnte Lebensformen, die Bonhoeffer mit seinen Vikaren praktiziert hat. Die Gemeinschaft der Glaubenden sollte sie stärken für die schwierigen Anforderungen, die auf jeden Einzelnen zukommen würden.

 

 

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

3

Und reichst du uns den schweren Kelch, bittern ...

Was ist dieser „schwere Kelch“ für Dietrich Bonhoeffer?
Er schreibt seine Zeilen am Jahresübergang von 1944 nach 1945 im Berlin-Tegeler Gefängnis. Schlimm genug, dass er seit mehr als eineinhalb Jahren inhaftiert ist - denkbar, dass alles noch schlimmer kommen wird. Dietrich Bonhoeffer hat „den schweren Kelch“ ergriffen, hat nicht zuerst an sich und sein privates Glück und Wohlergehen gedacht.

Einmal schon war er Mitte der 30er Jahre von England zurück nach Deutschland gekommen, und dann 1939, kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs, kam er erneut zurück, diesmal aus den Vereinigten Staaten.
Freunde hatten erreicht, dass er in den USA von den Nazis unbehelligt leben und arbeiten konnte. Doch er lief stundenlang unruhig durch die Straßen von New York - mit dem Gefühl, dass er am falschen Ort ist. Er spürte, dass er nicht dort ist, wo er hingehört. Er machte sich Vorwürfe, nicht bei seinen Freunden in Deutschland zu sein und ihnen zu helfen. In New York war er in Sicherheit – aber er war weit entfernt von dem, was er als seine Verantwortung annahm. Bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft in Amerika befindet er sich schon wieder auf der Rückreise und schreibt in sein Tagebuch: „Seit ich auf dem Schiff bin, hat die innere Entzweiung über die Zukunft aufgehört.“ Sein Platz war in Deutschland, in Berlin, da wo er gebraucht wurde.

Etwa 4 Jahre später, als er in Berlin-Tegel im Gefängnis ist, da schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge: „Du musst übrigens wissen, dass ich noch keinen Augenblick meine Rückkehr 1939 bereut habe noch auch irgendetwas von dem, was dann folgte. Das geschah in voller Klarheit und mit bestem Gewissen. Ohne Vorwurf denke ich an das Vergangene und ohne Vorwurf nehme ich das Gegenwärtige hin.“

Dietrich Bonhoeffer hat seinen Glaube als aktive Nachfolge Christi verstanden und gelebt - kompromisslos, mit allen schwerwiegenden Konsequenzen.

Dazu gehört, dass er seine Aufgabe im aktiven politischen Widerstand gesehen hat. „Nicht im Möglichen schweben, sondern das Wirkliche tapfer ergreifen!“ hat er gesagt, und: "Unser Christsein kann heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen ..."


Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

4

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken ...

Die Sonne des Lebens hatte sich mehr und mehr verfinstert, in den letzten Kriegsmonaten. Und wie so viele erlebte auch Dietrich Bonhoeffer auf seine Weise die Zerrissenheit: da war die buchstäbliche Zerrissenheit der Familie und des Freundeskreises und der Partnerschaft. Da war die alltägliche Lebensbedrohung durch die Bombenangriffe, denen die Gefangenen schutzlos ausgeliefert waren.

Die Welt hatte sich verdunkelt, Europa war von den menschenverachtenden Machenschaften, die von Nazi-Deutschland ausgegangen waren, in tiefe Finsternis gehüllt. Glanzlos die Welt, die Bonhoeffer in jüngeren Jahren von einer ganz anderen Seite kennengelernt und in der er sich selbstbewusst und frei bewegt hatte. Kaum zu glauben, dass sich nach dem Zusammenbruch noch einmal eine helle Zukunft eröffnen könnte. Doch wenn das schier Unglaubliche geschehen sollte, wie kann man dann weiterleben?

Dietrich Bonhoeffer hatte mit seinen Mitteln dafür gekämpft, dass das Unglaubliche möglich werden könnte. Als Agent der "Abwehr" hat er über seine internationalen Beziehungen versucht, den deutschen Widerstand im Ausland bekannt zu machen und Kontakte für mögliche Verhandlungen mit einem Deutschland nach Hitler zu knüpfen.

"... dann wolln wir des Vergangenen Gedenken" - sollte es die Chance eines Neuanfangs geben, dann im Gedenken der Geschichte, im Bewusst-machen dessen, was war an Not und Verzweiflung, auch an Schuld und Versagen.

 

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

5

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen ...

Was ist der flackernde Schein einer Kerze im Vergleich zur Strahlkraft der Sonne?
Nicht viel mehr als nichts - und doch unendlich viel mehr als die tiefschwarze Depression der Silvesternacht von 1944 auf 1945.

Gegen allen äußeren Augenschein bringt Dietrich Bonhoeffer die Glaubenshoffnung zum Ausdruck, die in ihm ist und die ihn durch sein Leben getragen hat, auch durch die Monate im Gefängnis. Es ist die Hoffnung, dass nichts von dem vergeblich gewesen ist, was er Zeit seines Lebens getan hat – ganz gleich ob es nun falsch oder richtig war.
Eine Hoffnung, aus Glauben genährt,
eine Hoffnung gegen allen Augenschein,
eine Hoffnung, die von dem lebt, was unsichtbar und hintergründig da ist.
So formuliert er es in einem seiner Gebete, die er für sich und seine Mitgefangenen im Gefängnis geschrieben hat:

"In mir ist es finster, 
aber bei dir ist das Licht;

ich bin einsam, aber Du verlässt mich nicht;
ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist die Hilfe;
ich bin unruhig, aber bei Dir ist der Friede;
in  mir ist Bitterkeit,
aber bei Dir ist die Geduld;
ich verstehe Deine Wege nicht,
aber Du weißt den Weg für mich."

 

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

6

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet ...

Was ist das für eine Welt, die da unsichtbar sich um uns weitet? Dietrich Bonhoeffer hat sich damit gründlich auseinandergesetzt. Und sein Verständnis von der Welt des Glaubens hat im Lauf seiner Lebenszeit durchaus eine Wandlung erfahren.

Es hat eine Zeit gedauert, bis er als junger Theologe selber in der Welt des Glaubens richtig angekommen war, gespürt hat: ich rede nicht nur darüber, sondern bin selber Teil, gehöre mitten hinein in die Gemeinschaft der Glaubenden in der weltumspannenden Kirche Christi.
Und dann ist er noch einen Schritt weiter gegangen: aus der geschlossenen Gemeinschaft der Glaubenden heraus in die bedrohliche, feindliche Welt – aus der Überzeugung, dass er gerade da seine Verantwortung als Christ wahrnehmen muss.

Am Ende ist es dann auch eine ganz andere Kirche, die er dabei in der Zukunft erahnt. Nicht mehr die Kirche der Macht und der Privilegien wird da sein. Nicht mehr die Kirche, zu der man ehrfürchtig hinaufschaut. Auch nicht eine Kirche, die um sich selbst und ihre Erhaltung kreist. Sondern eine dienende Kirche, ganz auf Augenhöhe, nahe bei denen, die Hilfe brauchen. Mit den eigenen Worten Dietrich Bonhoeffers „Kirche für andere“. Und als solche manchmal gar nicht fassbar – eben unsichtbar, aber nicht weniger wirklich.

 

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

"Von guten Mächten wunderbar geborgen" gesungen von Siegfried Fietz (Melodie 1970)

Impulse zu den anderen Tagen

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.