Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr (15. November 2020)

Ein Impuls von Pfarrerin Anja Sonneborn

Am Ende eines Kirchenjahres liegen die stillen Feiertage, oder besser Gedenktage. Wir denken an die Verstorbenen aus unseren Familien und Freundeskreisen. Wir denken mit zunehmender Dunkelheit und Kälte draußen vielleicht auch an unser eigenes Ende, an das, was uns im Leben wichtig ist und was nebensächlich erscheint. Der Lockdown verstärkt diese Gedanken. Zumindest bemerke ich das bei mir. Ich habe mehr Zeit und weniger Ablenkung, bin weniger unterwegs.

Auch die Bibeltexte, die für diesen Sonntag als Lesungs-oder Predigttexte vorgeschlagen sind, beschäftigen sich mit dem Ende des Lebens, dem Ende der Welt und mit Gedanken darüber, was danach sein könnte. Kein leichtes Thema. 

Predigttext: Matthäus 25,31-46

Vom Weltgericht

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.

Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten:
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.
Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht.
Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen:
Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben?
Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen?
Oder nackt und haben dich gekleidet?
Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

Und der König wird antworten und zu ihnen sagen:
Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken:
Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.

Dann werden auch sie antworten und sagen:
Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen:
Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Liebe Gemeinde!

Die dargestellte Szene ist ein Bild. Es ist wie ein großartiges Gemälde, das Jesus uns da vor Augen stellt. Und menschliche Künstler haben es oft und gerne nachgestaltet, weil es so eindrücklich ist: Die Scheidung der Schafe von den Böcken, die einen zum Himmel, die anderen in das ewige Feuer. Christus als Weltenrichter: Für viele Jahrhunderte ein vertrautes Bild.

Jüngstes Gericht, sagen wir oder: Letztes Gericht. ...zu richten die Lebenden und die Toten.

Ich habe da eine Ikone vor Augen, die ich mit Konfirmandinnen und Konfirmanden im Ikonenmuseum Recklinghausen unter fachkundiger Führung angesehen habe. Diese Ikone ließ die Phantasie richtig sprudeln. Ein eindrucksvolles Werk, bei dem Menschen entsprechend ihrer Lebesweise verschiedene Strafen zugeteilt bekamen. Eine Ikone mit vielen Einzelheiten und Geschichten.

Ich habe meine Probleme mit der Aussage dieser Werke und der Aussage des Textes. Ich habe in den Evangelien nämlich einen ganz anderen Jesus vor Augen.

Und doch erzählt uns Jesus von diesem Gericht am Ende des Lebens, am Ende der Zeit. Warum?

Menschliches Leben muss verantwortet werden. In unserem Leben vor unserem eigenen Gewissen und gegenüber unseren Mitmenschen. Man hat ja schon oft davon gehört, dass Menschen an der Schwelle des Todes ihr Leben an sich vorbeiziehen sehen, dass ihnen die Probleme und die gelungenen Lebensphasen vor Augen stehen, dass sie die Menschen sehen, die ihnen im Leben begegnet sind.

Doch nach welchen Maßstäben wird das Leben beurteilt? Der Maßstab wird erst dann so recht deutlich, wenn wir bedenken, wonach nicht gefragt wird. Sehr vieles, wonach wir Menschen andere und uns selbst beurteilen, spielt keine Rolle mehr: nicht unsere soziale Stellung, nicht die Menge an verrichteter Arbeit, auch nicht unsere religiöse Überzeugung. Was am Ende zählt, ist allein die Liebe und die daraus folgenden Taten. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Mitmenschen, das habt ihr mir getan.

Und was zur Verurteilung führt, sind nicht unsere falschen und bösen Taten, sondern nur noch eins: die Verweigerung der Liebe.

Das Urteil fällt in der Darstellung des Textes überraschend aus. Niemand kann sich sicher sein. Die mittelalterlichen Künstler haben in ihren Gerichtsdarstellungen gerne auch Bischöfe und Päpste, Priester, Mönche und Nonnen in die Hölle wandern lassen.

Und alle – die Menschen auf beiden Seiten werden fragen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremde oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?

Damit wir an jenem Tag diese Überraschung nicht erleben, erzählt uns Jesus vom Gericht: Wir können nicht ihm dienen und an unseren Brüdern und Schwestern vorbei sehen und vorbeigehen. Wenn sich der Glaube nicht in der Liebe bewährt, wo denn dann?

Er ist da, er läuft uns über den Weg; er ist nicht fern, er klopft an unsere Tür. Er wartet auf uns in den Einsamen und Kranken und Sterbenden; er braucht uns in den Heimatlosen, den Aussiedlern und Flüchtlingen; er blickt uns an aus den Augen der Witwen und Waisen und Elenden.

In den Märchen der Brüder Grimm findet sich die Geschichte von dem Armen und dem Reichen, die anfängt mit den Worten: "Vor alten Zeiten, als der liebe

 Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, dass er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, eh' er zu einer Herberge kommen konnte." Dieses Märchen gehört nicht zu den ganz bekannten. Der liebe Gott bittet zunächst bei einem reichen Mann um ein Nachtlager und wird abgewiesen. Dann klopft er bei den armen Nachbarsleuten an und wird freundlich aufgenommen. Er darf sogar im Bett der alten Leute schlafen und sie teilen das wenige Essen mit ihm. Am nächsten Tag gewährt er ihnen zum Dank drei Wünsche. Dann zieht er weiter. Als das der Reiche erfährt, reitet er dem lieben Gott hinterher und bekommt sogar auch drei Wünsche frei. Aber er wünscht sich in seiner Selbstsucht und durch Ungeschicklichkeiten allerlei Unsinniges, so dass er am Ende nichts davon hat.

Dieses Märchen lebt von einem uralten Motiv in der Literatur vieler Völker: Gott selbst geht über die Erde, um die Menschen zu prüfen. Wenn man ihn nur erkennen könnte ...

Verstehen wir Jesu Rede richtig, dann fängt das Grimm'sche Märchen falsch an: Nicht "vor alten Zeiten", sondern hier und jetzt. In seiner Rede vom Weltgericht will Jesus uns die Augen auftun: Überall, wo ein Mensch Not leidet und Hilfe braucht, da ist Gott auf seiner Seite. Die Hungernden dieser Welt sehen uns an und fragen uns. Millionen Flüchtlinge in aller Welt sind unterwegs auf der Suche nach Obdach und Bleiberecht. Die Opfer von Krieg und Gewalt warten auf Hilfe. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ Sage niemand, er7sie habe es nicht gehört.

Gott sei uns allen gnädig.

Das ist mehr als ein Wunsch, es ist eine Gewissheit.

Gott wird gnädig sein. Jesus führt uns vor Augen, dass alles Leben gefährdet ist und Leben misslingen kann, wo es an der Liebe fehlt; und dass es bei der Verantwortung unseres Lebens um das Tun geht, nicht um das Denken oder das Bewusstsein.

Aber es ist nicht die einzige Stelle der Bibel, die vom Ende handelt. Und jenseits aller Scheidung gibt es auch die tröstliche Perspektive, dass am Ende Gott alles in allem sein wird. Und dass Liebe und Erbarmen siegen. Auch das berichten Menschen, die dem Tod nahe waren. Sie gingen auf ein helles Licht zu und in ihnen breitete sich ein tiefer Frieden aus. Alles Leid ist vergessen. Nur noch die Liebe zählt.

Und Gott ist diese Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt bei Gott und Gott in ihm.

Darauf hoffe ich.

Amen.

Einladung zum Gebet

Gott, Du hast unsere Welt geschaffen. Und sie war gut.

Ginge es nach deinem Willen, wäre sie schön genug und groß genug und reich genug.

Wir bitten dich, Gott, öffne uns die Augen und die Herzen, lass uns erkennen und tun, was notwendig ist, dass es wieder beser wird in und mit dieser Welt.

Lass Hilfsbereitschaft einkehren.

Lass Hilfsbereitschaft einkehren, wo Eigensinn und Habgier herrschen.

Lass gegenseitige Achtung einkehren, wo Überheblichkeit und Geringschätzung herrschen.

Lass Freiheit einkehren, wo Unterdrückung und Abhängigkeit herrschen.

Lass Mut einkehren, wo Ohnmacht und Verzweiflung herrschen.

Lass Frieden einkehren, wo Gewalt und Terror herrschen..

Lass uns handeln, wo wir gebraucht werden.

In dieser schönen, großen, reichen Welt, dass alle leben können.

Amen.

Das jüngste Gericht, um 1660, Eitempera auf Holz182 × 144.5 cm, Ikonen-Museum, Recklinghausen, Deutschland, Inv. Nr. 918