Beten - wie geht das und was nützt das?

Gedanken zum fünften Sonntag nach Ostern
mit Bildern aus der Vaterunser-Kirche auf dem Ölberg in Jerusalem

von Pfarrer Andreas Menzel

Beten - mehr als ein Selbstgespräch

Wenn ich mit Konfirmandinnen und Konfirmanden über das Thema Beten spreche, dann machen wir manchmal eine "Meinungslinie". Das geht so: Ich sage eine Meinung, die man über das Beten haben kann, und die Konfis stellen sich rechts oder links von der Linie auf - je nachdem, ob sie zustimmen oder ob sie die betreffende Meinung ablehnen, zum Beispiel:

„Im Gebet kann ich alles aussprechen, worüber ich mir Sorgen mache.“

Oft findet dieser Satz große Zustimmung. Klar, kann man das beim Beten: ohne Schnörkel einfach sagen, was mich bewegt, ohne herumzureden, auch ohne mir selbst etwas vorzumachen. Aber das ist manchmal gar nicht so einfach, das auch wirklich und ehrlich zu tun. Man braucht vielleicht erst mal Zeit, und einen ruhigen Ort, so wie es Jesus auch sagt, als er in der Bergpredigt seinen Jüngern Tipps zum Beten gibt.

Da hilft es, wenn mich niemand beobachtet, vor dem ich Haltung bewahren muss,
vor dem ich meine Worte mit Bedacht wählen würde.
Und vor allem: wo ich nicht der Gefahr erliege, dass ich mir selber etwas schönreden muss. Die Fassade muss nicht mehr gewahrt bleiben beim Beten, denn Gott kennt mich ohnehin durch und durch.

Und überhaupt: Gott weiß sowieso schon alles, auch, worum ich ihn bitten werde.
Das fühlt sich aber schon ein bisschen merkwürdig an.

Warum soll ich dann überhaupt noch beten?, mag vielleicht auch damals schon einer der Zuhörer gefragt haben.

Und als hätte er diese Frage gehört, antwortet Jesus: „Deshalb sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel …“

Es folgen die Worte, die wir kennen, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind:
Das "Vaterunser" mit seinen sieben Bitten. Und die können ganz Besonderes bewirken: 
dass nämlich der, der sie betet, frei wird - indem er sich von der Seele reden kann, was ihn gefangen nimmt, sich von der Seele die Zwänge und Nöte reden kann, in denen er steckt - und im Beten selber eine Perspektive bekommt für freies und verantwortliches Leben. 

Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name ...

So viele Namen schreien danach, dass sie anerkannt und beachtet werden. Die Namen derer, die in den Ranking-Listen der Klicks und Likes ganz oben sind - und viele treibt die Sehnsucht, dass auch der eigene Name in den sozialen Medien des digitalen weltweiten Netzes GROSS geschrieben sein wird. 

Dein Name werde geheiligt ... Diese Bitte schärft den Blick dafür, dass nicht andere Namen an die Stelle Gottes treten, auch nicht der eigene Name. Nicht mein Name ist wichtig, an erster Stelle steht nicht, dass ich meine Bedürfnisse und Wünsche nach Macht, Erfolg und Anerkennung durchsetze, sondern dass ich Gott Raum gebe und dem, was Gott für uns und unsere Welt bereit hält.

Wer betet, gibt dem Gedanken Raum, dass alles auch ganz anders sein kann - das persönliche Leben, aber auch das globale.

Oft denke ich: Ach, da kann ich ja nichts machen. Leider. Die Welt ist nun mal so, es gibt oben und unten, arm und reich, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.
Jesus sagt: Nein, so soll es nicht sein,
und er vergegenwärtigt es, indem er sagt: ihr sollt zu Gott beten: Dein Reich komme.

Wenn wir GOTT darum bitten, können WIR dann nicht die Hände in den Schoß legen?

"Wer betet, verändert die Welt", so lautet eine andere Meinung über das Beten. Wirklich? Wodurch? Manch einer denkt vielleicht spontan: "Nein, wer betet, der tut doch nichts, der redet doch nur."

Doch! Wer betet, ist äußerst aktiv. Wenn ich darum bitte, dass Gottes Wille auf der Erde geschieht - dann erbitte ich die Kraft und die Phantasie, dazu etwas beizutragen. Ich bewundere die Menschen, die das ernst genommen haben. Wie zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer. Gerade in diesem Jahr, dem 75. Jahr nach seinem gewaltsamen Tod, erinnern wir uns intensiv an seine Geschichte. Er hat gebetet - alleine und in Gemeinschaft mit anderen; mit den jungen Menschen, die er für den Beruf als Pfarrer ausgebildet hat. Im Gefängnis Wand an Wand mit seinen Mitgefangenen. Er hat gebetet für andere und für die Welt, in der er lebte. Und er hat mit großer Energie das in die Tat umgesetzt, was im Sinne des Reiches Gottes geboten ist.

Im Beten liegt die Chance, das zu erfahren, was Gottes Wille für mich und für meine Welt ist. Nicht nur im Himmel, irgendwo weit weg und für mich unerreichbar. Sondern hier und jetzt, auf der Erde, mitten in unserer Welt. Und so führt Beten letztlich zum Handeln. Indem uns Gott die Augen öffnet, was sein Wille für unsere Welt ist. Beten und arbeiten gehören zusammen. Das eine folgt aus dem anderen. Das andere mündet in das eine. "Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen", nur darin kann unser Christ-Sein bestehen, formulierte Dietrich Bonhoeffer. Gottes Wille für unsere Welt.

Was kann das konkret sein, Gottes Wille für unsere Welt?

Einen Anhaltspunkt finde ich in der vierten Bitte des Vaterunser. Unser tägliches Brot gib uns heute. So lautet die Bitte in der Mitte dieses Gebets. Schon wenn ich diese Bitte ausspreche, dann ahne ich: Es geht nicht darum, dass Hauptsache ich habe, was ich zum Leben brauche - womöglich auf Kosten anderer, die ihr Leben ruinieren, weil sie für mich den Kakao und den Kaffee ernten, die ihre Gesundheit ruinieren, oder weil sie für mich die Jeans nähen. Unser Brot – indem ich das sage, bitte ich darum, dass es auch meinen Mitmenschen gut geht, so dass wir alle als Weltgemeinschaft in Würde leben können.

Unser tägliches Brot gib uns heute, darum sollen wir bitten: dass das also nicht irgendwann so sein soll, dass alle auf faire Weise haben, was sie zum Leben brauchen, sondern heute. Das Gebet Jesu ermutigt mich dazu, engagiert und kreativ das voranzubringen, was in unserer Gesellschaft viele in den Köpfen haben: eine friedliche, faire und ökologische Perspektive für unsere Welt. 

"... und vergib uns unsere Schuld".

Als hätte Jesus meine Gedanken geahnt, schlägt er mir diese Bitte als nächstes vor. Nein, ich bin nicht perfekt. Ich werde es nicht schaffen, "unser Brot heute" engagiert in die Tat umzusetzen. Ich werde schuldig - an den Strukturen, in denen ich lebe und von denen ich profitiere. Dass ich im privilegierten Mitteleuropa zu Hause bin. Annehmlichkeiten nutze, die kostbare Ressourcen verbrauchen: Mobilität, digitale Vernetzung, ein "smartes" Umfeld zum Leben. Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, meinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern - ich werde schuldig.

Und ich werde schuldig in meinem Verhalten gegenüber meinen Mitmenschen. Bei allem darf ich vertrauen auf die vergebende Güte Gottes - wie ein Vater oder eine Mutter, die ihr Kind liebevoll in die Arme schließt und eine neue Chance ermöglicht. Perspektiven für eine freundliche, befreiende Zukunft eröffnet.

Auch darum bitte ich: dass die erfahrene Vergebung kein eindimensionales Geschehen bleibt - sondern Kreise zieht. Wer Vergebung erfahren hat, der kann auch selber Güte und Vergebungsbereitschaft ausstrahlen. Niemand ist vollkommen - ich nicht und kein anderer. Wir dürfen mit unserer Unvollkommenheit geben und können das miteinander aushalten. Wir Christen sind die Gemeinschaft von Menschen, die darum wissen, dass sie unperfekt sind.

Dass Gott mich in Versuchung führt, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber dass wir in Versuchung geraten, das erlebt wohl jeder: etwas zu tun, von dem ich eigentlich weiß, dass es nicht gut ist, weder für mich noch für meine Nächste. Warum stehe ich dann trotzdem in der Gefahr, mich zum "Bösen" versuchen zu lassen? Erklären kann man sich das meistens nicht. Deswegen ist es wohl auch so schwierig mit dem sich-nicht-versuchen-lassen. Ich bitte Gott, dass er mir die Augen öffnet, die Versuchungen zu erkennen - und dass er mir die Kraft gibt, einen Weg zu gehen, der von der Versuchung weg führt.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Diese Zeilen, die in manchen Handschriften des neutestamentlichen Urtextes fehlen, schlagen im Grunde noch einmal einen Bogen zurück zum Anfang des Vaterunser: Es gibt um das Kommen des Reiches Gottes - also das Gottes Welt Wirklichkeit wird.

Wenn ich mir dieses große Vorhaben vor Augen führe und mir vorstelle, was meine Rolle dabei sein könnte oder auch sein müsste - dann fühlt sich das vielleicht wie eine unerreichbar große Utopie an. Ein unerreichbarer Traum, diese Gottes Welt?

Ich vertraue diesen Traum von der wunderbaren Gottes-Welt Gott selber an. Ich füge mein Bitten und Tun in diesen großen Traum ein, darf mein Tun als kleinen Beitrag zu dieser Gottes-Welt annehmen, in aller Unvollkommenheit und Bescheidenheit. Amen.

Einladung zum Gebet

Gott,
so viele Worte kommen an unsere Ohren: aufdringlich laut oder kaum hörbar leise,
gesprochen oder geschrieben,
auffordernd oder bittend,
freundlich oder ärgerlich.

Gott,
so viel möchten wir sagen,
doch das ist nicht immer so einfach.
So viele Missverständnisse,
so viel, das unser Gegenüber einfach überhört,
so oft geschieht durch das, was wir sagen,
das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigen.

Gott,
hilf uns dabei, offen und frei miteinander zu reden.
Öffne unsere Herzen, dass wir einander verstehen,
und lass uns auch immer wieder mit dir reden -
in dem Glauben, dass du immer ein offenes Ohr für uns hast,
durch Jesus und Deinen Heiligen Geist,
heute und in Ewigkeit. 

Amen.

Vom Beten

Jesus sagt:
»Wenn ihr betet,
macht es nicht wie die Scheinheiligen:
Sie stellen sich zum Beten gerne
in den Synagogen und an den Straßenecken auf –
damit die Leute sie sehen können.
Amen, das sage ich euch:
Sie haben damit ihren Lohn schon bekommen.
Wenn du betest,
geh in dein Zimmer
und verriegel die Tür.
Bete zu deinem Vater,
der im Verborgenen ist.
Und dein Vater,
der auch das Verborgene sieht,
wird dich dafür belohnen.
Sprecht eure Gebete nicht gedankenlos vor euch hin –
so machen es die Heiden!
Denn sie meinen,
ihr Gebet wird erhört,
weil sie viele Worte machen.
Macht es nicht so wie sie!
Denn euer Vater weiß,
was ihr braucht,
noch bevor ihr ihn darum bittet.
So sollt ihr beten:

›Unser Vater im Himmel,
dein Name soll geheiligt werden.
Dein Reich soll kommen.
Dein Wille soll geschehen.
Wie er im Himmel geschieht,
so soll er auch auf der Erde Wirklichkeit werden.
Gib uns das Brot,
das wir für heute brauchen!
Und vergib uns unsere Schuld –
so wie wir denen vergeben haben,
die uns gegenüber schuldig geworden sind.
Und stelle uns nicht auf die Probe,
sondern rette uns vor dem Bösen.‹

Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt,
dann wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben.
Wenn ihr den Menschen aber nicht vergebt,
dann wird euer Vater euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

 

aus der Bergpredigt,
Matthäus 6, 5-15

Morgengebet von Dietrich Bonhoeffer

Gott, zu Dir rufe ich in der Frühe des Tages.
Hilf mir beten
und meine Gedanken sammeln zu Dir;
ich kann es nicht allein.
In mir ist es finster,
aber bei Dir ist das Licht;
ich bin einsam, aber Du verlässt mich nicht;
ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist die Hilfe;
ich bin unruhig, aber bei Dir ist der Friede;
in mir ist Bitterkeit, aber bei Dir ist die Geduld;
ich verstehe Deine Wege nicht, aber
Du weißt den Weg für mich.
Amen.

Dietrich Bonhoeffer, 1943,
während seiner Haft im Gefängnis in Tegel

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