"SCHAUT HIN!"

zum Ökumenischen Kirchentag 
ein Impuls von Pfarrer Andreas Menzel

„Schaut hin“,
was für eine Aufforderung, dieses Motto des dritten Ökumenischen Kirchentags.
Was sehen wir, was sehe ich in diesen Corona-Zeiten? Mein Blick geht jeden Tag zu den aktuellen Inzidenzwerten, zur Zahl mit den an Corona Verstorbenen, zur Anzahl der freien Betten auf den Intensivstationen, zu den unkontrollierbaren Infektionsgeschehen in anderen Teilen der Welt.
Ich schaue hin und erschrecke – auch angesichts der Corona-Leugner und derer, die mit Ellenbogen-Mentalität in der Pandemie für sich selber sorgen.

„Geht hin und seht“, so lautet der Bibelvers des Kirchentagsmottos in der Lutherübersetzung.

Wie gerne wäre ich hingegangen, hingefahren nach Frankfurt mit anderen Menschen hier aus unserer Gemeinde, aus der katholischen Nachbargemeinde, mit Christ*innen aus ganz Bochum – um dann in Frankfurt zu sehen, was geht. Die Kirchentage – evangelisch wie katholisch, und in diesem Jahr zum dritten Mal ökumenisch – sind doch eigentlich jedes Mal so eine „Speisung der 5000“. Ein Wunder, dieses friedlich-fröhliche Happening, zugleich ernsthaft und mit tiefgründiger Zeitansage.

„Geht hin und seht“.
Ja wäre das doch gegangen, dann hätten wir gesehen, was da ist.

Mich hat das auf den vielen Kirchentagen, die ich in den zurückliegenden Jahren besucht habe, immer sehr angerührt und inspiriert: Zu sehen, wie sich in dieser Festival-Stimmung die Fülle des Glaubens ereignet.

Ich sehe mich als Jugendlichen in Hannover auf meinem ersten Kirchentag, ein paar Jahre später beim Eröffnungsgottesdienst des Ruhrgebietskirchentags auf der Wiese vor dem Bergbaumuseum, beim ersten Ökumenischen Kirchentag mit unseren Kindern im Kinderwagen beim Open-Air-Gottesdienst vor dem Brandenburger Tor. Die Kirchentage sind Teil meiner Lebens- und Glaubensgeschichte, und sie haben meinen Zugang zur Kirche und meine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen geprägt. Ich zehre von der Begegnung mit Menschen - auch aus den Gemeinden, in denen ich zu Hause bin, oder mit anderen, die ich zufällig treffe, neben denen ich in einer Podiumsdiskussion sitze oder mit denen ich beim Feierabendmahl das Brot teile. Junge und ältere Christ*innen aus Nord und Süd, Ost und West, eine Vielfalt von Dialekten und Sprachen, ein buntes Fest des Glaubens, an dem ich teilhaben darf und sehen, was geht.

Ich sehe an diesem ökumenischen Kirchentags-Wochenende im Mai 2021 vor allem das, was fehlt und was nicht geht.

Undenkbar, Schulter an Schulter in der überfüllten U-Bahn zu stehen und lauthals zu singen, unvorstellbar, das Brot miteinander zu teilen, das ein*e andere*r bereits in den Händen hatte oder sogar aus demselben Becher zu trinken. Geht nicht in Zeiten von Corona – geht vielleicht nie mehr so unbeschwert wie noch vor zwei Jahren in Dortmund. Und statt in Messehallen mit mehreren 1000 Menschen sitze ich allein vor dem Computer und klicke mich durch den digitalen Kirchentag.

Ja, geht das denn überhaupt, so ein digitaler Kirchentag auf Distanz? Und während ich mich ein wenig wehmütig in meinen Kirchentagserinnerungen verliere, springt mir dieses Motto in die Augen: Schaut hin! Ich kneife die Augen zusammen, nein es liegt nicht an meiner Brille, es bleibt unscharf.

Gleichnishaft rührt mich dieses Motto an.
Unscharf und verschwommen nimmt mein schweifender Blick in diesen Zeiten so manches wahr.
Ich sollte mehr Energie darauf verwenden, genau hinzuschauen.
Insofern scheint mir das ein sehr passendes Motto für diesen Ökumenischen Corona-Kirchentag: Schaut hin! Also seht nicht nur das was fehlt oder was nicht möglich ist, sondern was geht.

Sehen, was geht.
Vieles ist eine Frage der Wahrnehmung. Gehe ich mit offenen Augen durch die Welt – oder verschließe ich die Augen? Bleibe ich geduldig und nehme mir die Zeit, bis ich Zusammenhänge scharf und klar sehen kann – oder lasse ich meinen Blick flüchtig schweifen, so dass ich nur verschwommen und unscharf sehe?
Jesus fordert seine Jünger auf: Geht und seht!
Auf den ersten Blick stehen die Jünger vor einer unmöglichen und vielleicht auch vor einer unnötigen Aufgabe. Ihr flüchtiger Blick auf die Situation lässt nur eine sinnvolle Schlussfolgerung zu: Jesus, schick die Leute nach Hause. Es ist ohnehin Abend, sollen die Leute doch in die umliegenden Dörfer gehen und sich selber versorgen.
Ein pragmatischer Vorschlag, die Jünger denken praktisch. Wozu eine auf den ersten Blick unlösbare Herausforderung annehmen, wenn es auch anders geht.

Doch Jesus verfolgt einen anderen Ansatz:

Gebt ihr ihnen zu essen, schlägt er den Jüngern vor. Jesus möchte seinen Jüngern die Herausforderung zumuten – und die reagieren, wie man normalerweise reagieren würde: Sie prüfen auf der einen Seite ihre Ressourcen und auf der anderen Seite, was sie benötigen, stellen beides gegeneinander und stellen fest: Unsere Ressourcen reichen nicht – also geht es nicht!

In Jesu Augen ist das keine Lösung. „Geht hin und seht“, sagt er.

Bleibt mit eurem Blick nicht an dem hängen, was ihr habt oder nicht habt, sondern weitet euren Blick und schaut hin.

Schaut über den kleinen Rand eurer Jünger*innen-Perspektive hinaus und seht, was die Menschen mitbringen. Seht ihre Gaben und Fähigkeiten – und dann macht was draus. Die Jünger sehen. Das Sehen der Jünger ist ein Schlüssel dafür, dass die Herausforderung gelingt und Wunderbares wirklich wird.

„Schaut hin.“
Je länger ich darüber nachdenke, desto passender finde ich dieses Motto für den aktuellen Ökumenischen Kirchentag in dieser Zeit. Schaut hin, in diesen Corona-Zeiten. Auf die Möglichkeiten und Ressourcen, die da sind. Und da gab es, da gibt es etwas. Ärz*innen und Pfleger*innen in den Krankenhäusern, Fachleute und Freiwillige in den Impfzentren, Menschen, die im Alltag unterstützen und für andere einkaufen … Ein gutes Wort auf der Türschwelle, ein freundlicher Blick mit den Augen trotz Maske.

„Schaut hin.“
Was habt ihr für Möglichkeiten, was gibt es in eurem Umfeld? Die Pandemie macht uns hoffentlich sensibel dafür, hinzuschauen auf die Ressourcen – und diese fruchtbar zu machen und für andere einzusetzen.

Foto: Andreas Menzel

DIE SPEISUNG DER FÜNFTAUSEND

Markus 6

30 Und die Apostel kamen bei Jesus zusammen
und verkündeten ihm alles,
was sie getan und gelehrt hatten. 
31 Und er sprach zu ihnen:
Geht ihr allein an eine einsame Stätte
und ruht ein wenig. 
Denn es waren viele, die kamen und gingen,
und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen. 
32 Und sie fuhren in einem Boot
an eine einsame Stätte für sich allein. 
33 Und man sah sie wegfahren, und viele hörten es
und liefen aus allen Städten zu Fuß dorthin zusammen
und kamen ihnen zuvor. 
34 Und Jesus stieg aus und sah die große Menge;
und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe,
die keinen Hirten haben.
Und er fing eine lange Predigt an.

35 Da nun der Tag fast vergangen war,
traten seine Jünger zu ihm und sprachen:
Die Stätte ist einsam, und der Tag ist fast vergangen; 
36 lass sie gehen,
damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen
und sich etwas zu essen kaufen. 
37 Er aber antwortete und sprach zu ihnen:
Gebt ihr ihnen zu essen!
Und sie sprachen zu ihm: Sollen wir denn hingehen
und für zweihundert Silbergroschen Brot kaufen
und ihnen zu essen geben? 
38 Er aber sprach zu ihnen:
Wie viele Brote habt ihr?
Geht hin und seht nach!
Und als sie es erkundet hatten, sprachen sie:
Fünf, und zwei Fische. 
39 Und er gebot ihnen, dass sich alle lagerten,
tischweise, auf das grüne Gras. 
40 Und sie setzten sich, in Gruppen
zu hundert und zu fünfzig.

41 Und er nahm die fünf Brote und zwei Fische
und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote
und gab sie den Jüngern, dass sie sie ihnen austeilten,
und die zwei Fische teilte er unter sie alle. 
42 Und sie aßen alle und wurden satt. 
43Und sie sammelten die Brocken auf,
zwölf Körbe voll, und von den Fischen. 
44 Und die die Brote gegessen hatten,
waren fünftausend Männer.

DEN WEG WOLLEN WIR GEHEN

Wer gibt dem Menschen, der blind ist, das Licht?
Wer reicht dem Menschen, der Angst hat, die Hand?
Wer geht den Weg, der die Mühe lohnt?

Wer deckt den Menschen, der hungert, den Tisch?
Wer reicht dem Menschen, der Durst hat, den Krug?
Wer geht den Weg, den die Mühe lohnt?

Wer gibt dem Menschen, der zweifelt, den Mut?
Wer gibt dem Menschen, der absackt, den Halt?
Wer geht den Weg, der die Mühe lohnt?

Den Weg wollen wir gehen.
Die Liebe geht mit uns:
Auf dem langen und steinigen,
auf dem weiten und unbequemen,
auf dem Weg, der die Mühe lohnt.

 

Text: H.-J. Netz
in: Neue Praxishilfe Gottesdienstliturgie, Bd. 2, S. 385